Das Lied des Propheten: Roman | Booker Preis 2023
Dieser Roman hat mich sprachlos gemacht. Ist die Szenerie doch mittlerweile so nah. Und genau das will der Autor David Lynch sicherlich bewirken: dass wir uns bewusst werden, schmerzhaft bewusst, wie schnell sich das Blatt wenden kann.
In Nordirland ist der Roman angesiedelt, dort ist mittlerweile die nationalistische Partei NAP ans Ruder gekommen. Mit Notverordnungen & Geheimpolizei wird geltendes Recht leicht ausgehebelt und das Land findet sich in einer handfesten Diktatur wieder. Innerhalb kurzer Zeit „verschwinden“ Menschen, die anders denken und für ihr Recht einstehen. Darunter auch Larry, der Ehemann von Eilish, der in der Lehrergewerkschaft als stellvertretender Generalsekretär sehr aktiv ist und sich nicht mundtot machen lässt.
Über Nacht ist die Wissenschaftlerin Eilish allein mit ihren 4 Kindern – der Kleinste ist gerade mal ein halbes Jahr alt. Der Große soll in die Armee eingezogen werden. Spätestens, als er sich weigert und sich heimlich den Rebellen anschließt, wird die Familie heftig schikaniert. Eilish verliert den Job, bangt um ihren abgetauchten Sohn, hofft auf die Rückkehr von Larry und hat überdies noch einen dementen Vater, der ein paar Straßen weiter lebt und um den sie sich kümmern muss. Die Schulen werden geschlossen, Lebensmittel werden immer knapper und schon sehr bald gibt es grausame Gefechte mitten in der Stadt, auch in der Straße von Eilish und ihrer Familie.
Eilishs Schwester lebt im Ausland und hat sie bereits zu Beginn dieser furchtbaren Entwicklungen gedrängt, mit ihrer Hilfe das Land zu verlassen. Doch Eilish will ihre Heimat nicht so schnell aufgeben. Sie ist hin und her gerissen. Nicht zuletzt, weil sie da sein will, wenn ihr Sohn und ihr Mann eines Tages wieder nach Hause kommen. Weil sich noch nicht die Gewissheit einstellen will, dass alles nur noch schlimmer wird. Ich kann mich in diese Mutter absolut hineinversetzen und überlege unweigerlich, ob ich anders handeln würde. Wahrscheinlich nicht. Ich verstehe ihre Beweggründe und Zweifel zu hundert Prozent.
Lynch beschreibt diese Entwicklung unglaublich intensiv. Nicht zuletzt durch eine ganz besondere Sprache voller poetischer Sprachbilder, langer Sätze und ohne Kennzeichnung von direkter Rede. Ich muss teilweise Sätze und Abschnitte zweimal durchlesen, um alles zu erfassen. Das führt dazu, dass ich das Lesetempo sehr runterschraube. Aber auch die Kette an furchtbaren Ereignissen lassen mich immer mal wieder eine Pause einlegen um zu verarbeiten. Ich glaube, dass der Autor genau dies bezweckt. Durch ein Innehalten und Langsamlesen wird die Lektüre intensiver, dringt in jede Pore und zieht mich mit hinein in diese tragische Geschichte, die doch gar nicht mehr so unrealistisch und dystopisch erscheint. Und genau das soll mir bewusst gemacht werden.
Mich persönlich hat die Lektüre angestrengt, fasziniert, gefesselt und unheimlich traurig gemacht. An so vielen Orten erleben Menschen genau jetzt genau dieses Szenario. Nur die absolut Verzweifelten entscheiden sich zur Flucht - so auch letztendlich Eilish im Roman, als es für sie nicht mehr geht. Aber selbst solch eine Flucht ist gefährlich und kann schiefgehen…
Wow, der Roman hat mich regelrecht weggefegt! Prädikat: wertvoll!
In Irland reagiert seit 2 Jahren ein autoritäres Regime, das durch Notverordnungen die Freiheit seiner Bürger immer mehr einschränkt. Eilish und ihr Mann Larry leben mit ihren 4 Kindern auf der Insel und merken, wie sich die Lebensumstände verändern. Doch das Land zu verlassen und nach Kanada auszuwandern, wo Eilishs Schwester wohnt, ist keine Option; es ist ihr Land und hier wollen sie bleiben. Als eines Tages die Geheimpolizei vor der Tür steht und nach Larry fragt, überkommt Eilish eine Vorahnung - sie spürt instinktiv, dass Gefahr droht.
"Das Gefühl nun, dass irgendetwas ins Haus gekommen ist, ...., etwas Formloses und dennoch Wahrgenommenes."
Alles ändert sich als Larry von der Protestkundgebung der Lehrergewerkschaft, die einige Tage nach dem Besuch der Geheimpolizei stattfindet, nicht mehr zurückkommt. Die Situation gerät aus den Fugen und Eilish, die nun auf sich alleine gestellt ist, kann die Gefahr in ihrem ganzen Ausmaß nicht erfassen.
Meine persönlichen Leseeindrücke
Das Lied des Propheten entpuppt sich recht bald als ungewöhnliches Leseerlebnis. Nicht nur der überaus poetische Sound überzeugt, sondern auch die Geschichte einer mit der neuen politischen, gesellschaftlichen und familiären Situation überforderten Frau. Mit wenig Vorspann bin ich gleich im Geschehen. David Lynch scheint absichtlich mitten in einer Szene zu beginnen, um von da an von Eilish und ihren Kindern zu erzählen.
Er zeigt recht eindrucksvoll wie schnell ein ruhiges, sicheres und geregeltes Dasein vorbei sein kann, wenn sich politische Rahmenbedingungen ändern. Sein Fokus liegt dabei bewusst auf den Veränderungen in und um Eilishs Familie, eine Einheit, die sich aufzulösen beginnt. Hervorragend wie er beschreibt, welche neuen Gedankengänge sich in den einzelnen Köpfen auftun und was die Unsicherheit mit den Menschen macht. Durch seinen ungewöhnlichen, lyrischen Erzählstils verstärkt er bewusst die sich entwickelnde düstere Stimmung, und "Das Lied des Propheten" liest sich wie eine Mär, eine Prophezeiung. Eine Beklemmung spukt nun in mir herum und beunruhigt mich.
... wie sieht Wahnsinn aus, so sieht er aus, nicht wie jemand, der mit den Armen fuchtelt und zu den Göttern schreit, sondern wie eine Mutter, die nach Hause zu ihren Kindern will.
Dass sich David Lynch gerade Irland als Handlungsort ausgesucht hat, ist, meine ich, vollkommen unbedeutend. Ich verstehe es nicht als "reale" Situation in Irland, sondern als Bezug auf sehr viele andere Staaten, in denen genau dieses Szenario stattfand oder jetzt stattfindet, UND ich denke hier ganz explizit an die Faschistenzeit in Italien und den Nationalsozialismus in Deutschland.
Am Ende stellt sich mir die Frage, ob es richtig ist, in einem Land zu bleiben, um gegen ein totalitäres Regime und für die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen oder ob es unter Umständen besser wäre, zu gehen. Eine eindeutige Antwort fällt nicht leicht. Selbst in meiner Familie würden wir uns unterschiedlich entscheiden.
„Was ich jetzt vor uns sehe, Eilish, das ist ein schwarzes Loch, das sich vor uns auftut, wir haben die Grenze zur Flucht überschritten, und selbst wenn das Regime gestürzt wird, das schwarze Loch wird weiter wachsen und dieses Land auf Jahrzehnte hin verzehren.
Zum Schluss möchte ich die herausragende Übersetzung von Eike Schönfeld würdigen. Es ist ihm gelungen, den besonderen Sound des Romans ins Deutsche zu übertragen. Eine Leistung, die nicht jedem gelingt.
Ein Buch wie in Stein gemeißelt, mehr als eine Dystopie, eine nachdrückliche Warnung, eine Rede, eine Aufforderung zum Denken und Handeln, das Lied des Propheten. Parallelen lassen sich zu Krisensituationen, Gewalt, Terror, Totalitarismus ziehen und es zeigt sich, die Möglichkeit der Eskalation ist in jedem Land gegeben, hier treffen wir auf Irland als den Terrorstaat, vom Ausland aus der Ferne betrachtet.
Die grandiose, märchenhafte, poetische Sprache Paul Lynchs lässt den Roman fast wie ein Werk aus der Antike erscheinen, ein Epos, das den Menschen an sich in das Zentrum stellt, das sich mit dem Wesen von Gemeinschaft, Gesellschaft und kulturellen Errungenschaften auseinandersetzt. Die Sprache ist ein wahrer Genuss, voller Anmut und Schönheit, Parallelen zum Alten Testament werden deutlich. Aber welche biblischen Plagen und Katastrophen werden hier beschrieben!
Die Ausgangslage, die Normalität, verwandelt sich im Laufe des Romans in den Ausnahmezustand, die Grausamkeit der Situation und die immer beängstigender werdende Atmosphäre im Land werden extrem intensiv dargestellt, sie sind körperlich spürbar und das ohne exzessive Darstellungen von Gewalt oder blutigem Gemetzel.
Aus der Perspektive Eilishs, der Protagonistin, erleben wir die schleichende Umwandlung eines demokratischen Staates in eine faschistische Diktatur, in einen Unrechtsstaat, der sich Spitzeln und einer bewaffneten Miliz bedient und seine Bürger einschüchtert, quält und erpresst, sobald sie sich nicht an seine Regeln halten. Eilish, deren Ehemann Larry von der Geheimpolizei festgenommen wird, mit der wir uns identifizieren, glaubt zu Beginn an die Vernunft und das Positive im Menschen, aber schnell ist sie von der Situation überfordert und verdrängt die erschreckende Realität. Sie ist jedermann, Stellvertreterin für den Glauben an Humanismus, das Wahre, das Gute und die Vernunft.
Eilish „finds herself, wishing for a stop to spring, for the day‘s decrease, for the trees to go blind again, for the flowers to be taken back into the earth, for the world to be glassed to winter.”
Mark, ihr 16-jähriger Sohn dagegen, ist schon realistischer, er hat sich den oppositionellen Jugendlichen angeschlossen, die gegen das neue Regime protestieren und kämpfen wollen: “They hunted us down, everything has changed now, don’t you see, there can be no going back.”
Die persönliche Frage steht nicht im Vordergrund, wie man sich in welcher Situation entscheiden würde, sondern es geht um die Allgemeingültigkeit der Schrecken des Krieges, die vielen Einzelschicksale, die ständigen Entscheidungen, die es zu treffen gibt. Es gibt kein richtig oder falsch mehr für den Einzelnen, nicht jede Entscheidung kann revidiert oder bewertet werden, es ist einfach der totale Ausnahmezustand, aus seinem vorherigen Leben ist man nicht für diese Situation gewappnet. Der Fall der Familie ist kein Einzelschicksal. Angst vor Veränderung, Angst vor Verlust, Hoffnung, Erstarrung, Flucht, Panik – all diese Gefühlsregungen werden von den unterschiedlichen Figuren in unterschiedlichem Ausmaß durchlebt und man richtet sich in dem Schrecken ein und der Mensch gewöhnt sich an den neuen Status Quo.
Eine der Hauptaussagen des Romans ist im letzten Kapitel enthalten, diese schreckliche Tatsache, dieses Nebeneinander von Normalität in dem einen Land und Krieg in dem anderen, diese disparaten Lebenswelten, der pure Antagonismus. Das Glück, auf der einen Seite oder anderen Seite der Welt zu wohnen, das unverschämte Glück, im Paradies oder das Unglück, in der Hölle zu leben…
Paul Lynchs Werk hat zu Recht den Booker-Prize gewonnen und es wird neben Orwells „1984“, Atwoods „Handmaid’s Tale“ und Kafkas „Prozess“ seinen Platz einnehmen.
Paul Lynch hat mit "Das Lied des Propheten" einen sehr außergewöhnlichen Roman verfasst. Im Jahr 2023 wurde ihm dafür der Bookerprice verliehen.
Wir befinden uns in Irland, die Zeit ist nicht genau definiert, aber anhand der Gegebenheiten kann man davon ausgehen, dass es sich auch in der heutigen Zeit abgespielt haben könnte.
Irland steuert auf einen Ausnahmezustand zu. Das totalitäre System ist bereits fest verankert, auch wenn ein Teil der Bevölkerung die Zeichen noch nicht richtig deutet oder sie nicht wahrhaben will. So auch Eilish, die den Leser hier im Buch durch die Geschichte führt.
Als ihr Mann abgeführt wird, glaubt sie noch daran, dass alles wieder gut wird, er bald zurück nach Hause kommt. Doch von Kapitel zu Kapitel kommen immer neue Schikanen für die Bürger, viele Bürger sind bereits geflohen. Eilish hätte sogar gute Chancen sich und die 4 Kinder mit Hilfe der Schwester, die in Kanada lebt, außer Landes zu bringen. Doch Eilish, deren ältester Sohn Mark mittlerweile zu den Rebellen gegangen ist, will und kann die Hoffnung nicht aufgeben, möchte ihren Mann und den Sohn nicht im Stich lassen, falls sie zurückkehren. Hinzu kommt, dass sie sich um ihren dementen Vater kümmert, der sogar in lichten Momenten versichert, sie solle die Familie fortschaffen, er käme alleine zurecht. Eilish nimmt diese Pflicht aber ernst, und versucht ihre Familie über Wasser zu halten, was in Zeiten von Lebensmittelknappheit nicht leicht ist, zumal ihr jüngster, Ben, noch sehr klein ist. Ihr Haus steht mitten im Kriegsgebiet, an ruhigen Schlaf ist schon länger nicht zu denken. Dann die Sorge um den Verbleib der restlichen Familienmitglieder….
Eilish Verbissenheit zu bleiben löst beim Leser widersprüchliche Gefühle aus, zum einen kann man sie verstehen, zum anderen möchte man sie zur Vernunft bringen.
Lynch macht immer wieder klar, dass Menschen in solchen schrecklichen Situationen unterschiedlich handeln, und hinterher ist man immer schlauer. Es ist leicht im Nachhinein zu sagen, dass alles auf der Hand lag. Eilish rutscht Stück für Stück in ein schier unhaltbares Disaster.
Das schreckliche an diesem Roman ist für mich die Tatsache, dass es dieses Grauen tatsächlich gibt, und auch wir nicht gänzlich davor geschützt sind, so etwas durchleben zu müssen.
Wahrscheinlich bedient sich der Autor deshalb dieser wunderbaren, lyrischen Sprache, um diesen Schrecken ein wenig abzumildern.
Ein Buch, dass seine Auszeichnung zu Recht erhalten hat. Ein Roman, der nachhallt, und viele Fragen aufgeworfen hat während des Lesens.
Eilish Stack, Mikrobiologin und vierfache Mutter, ist verzweifelt: Ihr Mann Larry, ein ranghoher Lehrergewerkschafter, ist im Umfeld einer Demonstration verhaftet worden und seither verschwunden. Sie muss sich nun alleine um ihre Kinder Mark, Molly, Bailey und Ben kümmern - und um ihren dementen Vater Simon. Derweil wird das autoritäre, nationalistische Regime in Irland immer radikaler und tyrannischer, was Eilish den Alltag zusätzlich erschwert…
„Das Lied des Propheten“ ist ein Roman von Paul Lynch. Er wurde mit dem Booker Prize 2023 ausgezeichnet.
Der Roman umfasst neun Kapitel. Erzählt wird im Präsens in chronologischer Reihenfolge aus der Perspektive von Eilish. Die Handlung ereignet sich über einen Zeitraum von etlichen Monaten.
Vor allem seine poetische Sprache macht den Roman ungewöhnlich und besonders. Neologismen und Metaphern schaffen viel Atmosphäre und einen unverwechselbaren Stil, der sich nur schwer ins Deutsche übertragen lässt. Angesichts dieser großen Herausforderung ist die Arbeit von Übersetzer Eike Schönfeld dennoch an den meisten Stellen gelungen.
Die Geschichte bleibt sehr nahe bei Protagonistin Eilish, deren Gedanken und Gefühlswelt zwar einerseits deutlich wird, deren langes Zaudern für mich andererseits aber nur schwer zu ertragen war. Ihr teils etwas widersprüchliches, teils inkonsequentes und wenig heldenhaftes Verhalten wirkt auf mich dennoch zutiefst menschlich und realistisch. Auch die übrigen Figuren erscheinen lebensnah.
Inhaltlich beleuchtet der Roman, wie eine autoritäre und faschistische Regierung mehr und mehr Freiheiten und Rechte einschränkt, wie sie manipuliert, lügt und kontrolliert, wie die Unterdrückung immer engere Kreise zieht und zunehmend Leib und Leben der Menschen bedroht. Die Geschichte fasst die Methoden solcher Regime zusammen, verdichtet deren Vorgehensweise auf eine kurze Zeitspanne und zeigt die äußersten Konsequenzen auf. Damit rüttelt die Lektüre auf und bietet reichlich Stoff zum Nachdenken.
Auf den rund 300 Seiten ist die Geschichte spannend und beklemmend zugleich. Sie schont die Leserschaft nicht und hält mehrere Grausamkeiten bereit. Dem Sog der Story konnte ich mich nicht entziehen.
Der deutsche Titel ist nahe am englischsprachigen Original („Prophet Song“). Das künstlerisch anmutende Cover, das ebenfalls übertragen wurde, passt nach meiner Ansicht ebenfalls hervorragend.
Mein Fazit:
Sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht ist „Das Lied des Propheten“ eine Lektüre, die einiges abverlangt und nicht leicht verdaulich ist. Mit seinem preisgekrönten und empfehlenswerten Roman hat mich Paul Lynch dennoch überzeugt.
Von der ersten Seite an schafft es Peter Lynch, eine Stimmung aufzubauen. Die Bedrohung ist greifbar, das dumpfe Gefühl schwillt immer weiter an.
Eine neue Partei ist in Irland an der Macht, die NAP, legitimiert durch Notstandsgesetz, kontrolliert die Medien und missachtet bisher geltendes Grundrecht. Die GNSB, die operierende Einheit und eine Art Geheimpolizei, sucht ganz normale Mitbürger auf. Und so wird Larry Stark, Familienvater und Eilishs Ehemann, der Generalsekretär der Lehrergewerkschaft, zunächst verhört und schließlich auf eine Demonstration ohne Begründung festgenommen. Hilflos muss es Eilish im Fernsehen mit ansehen.
Plötzlich ist Eilish in diesem System bröckelnder Grundrechte auf sich alleine gestellt. Ihr obliegt die Aufgabe, ihren zunehmend dement werden Vater und ihre vier Kinder, den fast 17 jährigen Mark, die beiden pubertierenden Teenager Molly und Bailey und den Nachzügler Ben, im Krabbelalter zu versorgen. Von einem Tag auf den anderen ist Eilish die Hauptverdienerin, muss nicht nur um ihren Mann kämpfen, sondern auch ihren Vater, der nicht mal sein Haus verlassen will, versorgen, nebenbei die Kinder zur Schule bringen und den kompletten Haushalt stemmen. Die Familie steht unter Beobachtung, von den Nachbarn scheint jede Spur zu fehlen und auch Freunde und Bekannte verschwinden. Es sind düstere Zeiten für Menschen, die an Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte glauben. Die Kinder erkennen früh, welche Richtung die politische Situation nehmen wird und beginnen mit ersten Zeichen des Widerstandes. Eilish klammert sich am Alltag fest, funktioniert weiter als Versorgerin und Familienmanagerin. Doch die Lage spitzt sich zu, als Mark schließlich zur Armee eingezogen werden soll, obwohl er noch nicht mal volljährig ist. Er taucht unter, schließt sich heimlich dem Widerstand an und bricht den Kontakt zu Eilish nahezu ab. Die Bedrohung steigert sich weiter und doch bleibt Eilish in im Alltag verhaftet. Muss sie doch weiter ihren Vater versorgen, um Larry kämpfen, sich um Mark sorgen, den anderen Kindern einen regulären Alltag bieten. Obwohl ihre Schwester in Kanada Eilish dringend zur Flucht rät, kann sie sich nicht dazu durchringen. Die Repressionen nehmen weiter zu, der Druck wächst. Eilish verliert ihren Job, die Schulen werden geschlossen, die Lebensmittel werden rationiert, die Medien zunehmend zensiert. Vor der Mammutaufgabe des Alltags erdrückt kann Eilish nicht anders als Tag für Tag zu funktionieren. Doch die Unterdrückung fördert den bewaffneten Widerstand und bald schon gibt es bürgerkriegsähnliche Zustände. Als sie sich schließlich mit dem unvorstellbaren konfrontiert sieht, bleibt ihr und den übrig gebliebenen nur noch das nackte Überleben.
Paul Lynch hat einen fesselnden, schmerzhaften, atmosphärischen und dichten Roman geschaffen, den man nicht leicht lesen kann. Durch die gewählte Form, einen fast durchgehenden im Präsens gehaltenen Fließtext ohne Markierung der wörtlichen Rede, werden wir als Lesende ganz tief in die Handlung hineingezogen. Es ist ein dauernder Fluss, ein Strom aus Eilishs Gedanken und den täglichen Ereignissen, Erinnerungen und Traumbildern, der die Aufmerksamkeit bannt.
Wir erleben den Zusammenbruch der uns bekannten Welt - in einem unserem eigenen sehr gleichendem Land - aus der Perspektive einer Frau, die man selbst sein könnte, was den Text umso eindrücklicher macht. Wir spüren Eilishs Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit, gefangen in dem Zwiespalt, wie sie ihren sechs Familienangehörigen am ehesten retten kann. Und wie Eilish wider besseres Wissen und trotz sehenden Auges nicht wahrhaben will, was hier wirklich passiert. Und so kommen wir nicht umhin uns zu fragen, wie hätten wir gehandelt?
Darüber hinaus wählt Lynch eine fast lyrisch anmutende Sprachform voller Stilmittel, Vergleiche und Metaphern, die auch in der Übersetzung von Eike Schönfeld kunstvoll umgesetzt wurde. Vor meinem inneren Auge entstanden emotionsgeladene Bilder, die mich sehr mitgenommen haben. Teilweise war es fast schmerzhaft weiterzulesen, so sehr habe ich mit Eilish gefühlt, wollte ich Eilish wachrütteln, anschreien oder einfach in den Arm nehmen. An manchen Stellen musste ich erstmal pausieren, bevor ich weiterlesen konnte.
Ich finde, dass es gerade in zeiten erstarkender rechter Gruppierungen in Europa nicht genug Bücher darüber geben kann, wie ein faschistisches oder totalitäres Regime unsere Demokratie, unsere Freiheit und unser Leben bedroht. Wir alle haben in unserem Leben von der Diktatur unter den Nationalsozialisten, dem Stalinismus, den roten Khmer gehört. Und doch ist ein Roman, zumindest für mich persönlich, nochmal viel eindrücklicher. Wenn der Autor dann außerdem noch eine formale und sprachliche Form schafft, die mich gefangen nimmt, mitreißt und packt, dann hallt so ein Buch lange nach. Und es lehrt uns, dass unsere Demokratie bedroht und sehr zerbrechlich ist. Es ist unsere Aufgabe, sie zu schützen.
Eine absolute Leseempfehlung.
Das Unheil kommt in Gestalt zweier Männer. Sie stehen eines Abends vor der Tür des Hauses der Familie Stark in Dublin. Die beiden sind Zivilbeamte der neu gegründeten Geheimpolizei und sie wollen Larry Stark sprechen. Der ist als stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft ins Visier der neuen Regierung geraten. Doch Larry will sich nicht einschüchtern lassen und bereitet mit anderen Mitstreitern eine Großkundgebung gegen die neuesten Restriktionen der Regierung vor. Von dieser Demonstration wird Larry nie mehr heimkommen. Er wird wie Tausende mit ihm verhaftet und verschleppt. Sein weiteres Schicksal bleibt im Dunkeln.
Und Eilish, seine Frau, wird mit den vier Kindern, zwischen 16 und einem halben Jahr alt, alleine zurechtkommen müssen.
Wir sind in Irland, das sich innerhalb kürzester Zeit in eine Diktatur verwandelt hat. Eine nationalistische Partei, die National Alliance Party
( NAP) hat die Wahl gewonnen. Sie regiert mit Notverordnungen, verfolgt Andersdenkende und besetzt Schaltstellen der Macht mit ihren eigenen Leuten. Bürgerrechte werden außer Kraft gesetzt. Das bewährte Instrumentarium aller Diktaturen wird aufgefahren.
Wie es dazu kommen konnte, welche Ziele die neue Regierung verfolgt, wird nicht näher erläutert. Darum geht es dem Autor offensichtlich nicht.
Nein, er setzt in dieses Szenarium eine ganz gewöhnliche Frau, jemanden wie Du und ich, und zeigt ganz konkret, wie deren Leben unter den veränderten Bedingungen weitergeht.
Eilish mag anfangs nicht glauben, dass ihr Mann verhaftet wurde. Sie hält es für einen Irrtum, pocht auf ihre Rechte, bis sie begreift, dass das alte Recht nicht mehr gilt. Sie kämpft auf der einen Seite für die Freilassung ihres Mannes und versucht gleichzeitig die Familie zusammenzuhalten. Um die Kinder nicht zu beunruhigen, greift sie zu Lügen und Ausflüchten. Doch lange lässt sich der Schein der Normalität nicht aufrechterhalten. Die Lage spitzt sich dramatisch zu. Die Familie wird schikaniert und steht unter Beobachtung. Eilish verliert ihren Job. Die Schulen werden geschlossen, Lebensmittel werden rationiert. Der älteste Sohn Mark soll zur Armee eingezogen werden. Doch der geht in den Untergrund und schließt sich den Rebellen an.
Eilishs Schwester in Kanada dringt schon früh auf eine Ausreise. „ …die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen müssen.“ Doch Eilish kann nicht einfach weggehen. Zu viele Verpflichtungen halten sie zurück. Die Kinder brauchen ihre gewohnte Umgebung, außerdem trägt sie die Verantwortung für ihren zusehends dementer werden Vater, den sie nicht allein lassen kann. Und dann ist ist da immer noch die Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes.
Als Leser leidet man mit Eilish, aus deren Perspektive wir die Entwicklung verfolgen. Wir hadern mit ihrem Zögern und ihren Entscheidungen und fragen uns gleichzeitig, wie wir in einer vergleichbaren Situation handeln würden.
Es muss noch einiges passieren, bis Eilish sich durchringen kann, das Land zu verlassen. Doch auf legalem Weg ist das nicht mehr möglich, die Grenzen sind dicht. Der Roman endet am Meer, dort, wo aktuell so viele aufbrechen in eine bessere Zukunft.
Dass der Autor das Geschehen ganz konkret in Irland verortet, nicht in einem weit entfernten Land oder in einer fernen Zukunft, macht die Geschichte so beklemmend. Damit macht Lynch deutlich, dass so eine Entwicklung jederzeit und überall passieren kann. Und wie wichtig es ist, die Zeichen der Zeit frühzeitig zu erkennen und richtig zu deuten. Im Grunde beschreibt Lynch nichts Neues. Beispiele aus der Geschichte und der Gegenwart gibt es zu Genüge. Aber es ist notwendig, sich das immer wieder in Erinnerung zu rufen. Demokratie ist nicht selbstverständlich und für sie muss beständig eingetreten werden. Ein Weckruf an uns alle, damit wir uns nicht denselben Vorwurf machen müssen wie Eilish: „ Dein ganzes Leben lang hast du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das große Erwachen.“
Das Buch ist keine leichte Lektüre. Es erfordert die volle Konzentration und sein Stil und die verengte Perspektive erlauben keine Distanz. Lynch unterteilt es zwar in einzelne Kapitel, doch dazwischen gibt es keine Absätze. Die starke Rhythmisierung der Sätze und das durchgehende Präsens ergeben eine Dringlichkeit, der man sich als Leser nicht entziehen kann. Dialoge werden nicht durch Anführungszeichen kenntlich gemacht; wer spricht, oder ob es sich um Gedanken oder Gespräche handelt, wird oft nur durch den Kontext deutlich.
Was den Roman neben seiner Thematik aber so besonders macht, ist seine lyrische Sprache. Lynch findet ausdrucksstarke Bilder, die das Grauen fühlbar machen. Die Bedrohung rückt so dem Leser ganz nahe. Dabei arbeitet er mit Leitmotiven und einer starken Symbolik.
Gegen Ende lässt der Autor den titelgebenden biblischen Propheten zu Wort kommen: „ …und der Prophet singt nicht vom Ende der Welt, sondern davon,…, dass die Welt immer wieder aufs Neue an einem Ort endet, aber nicht an einem anderen, und dass das Ende der Welt immer ein lokales Ereignis ist, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses, und wird für andere nur eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen, das in die Folklore eingegangen ist,…“
Der irische Autor wurde 2023 für diesen Roman mit dem Booker Prize ausgezeichnet. Völlig zu Recht, wie ich finde. „ Das Lied des Propheten“ ist ein schmerzhaftes Buch, aber ein wichtiges, ein notwendiges; ein Buch, das nicht nur thematisch überzeugt, sondern v.a. durch seine literarische Umsetzung.
Der Alltag brach, als Eilishs Mann verschwand. Er war Gewerkschaftsekretär und sollte sich für ein paar Fragen bei der neu gegründeten Garda National Services Bureau, kurz GNSB melden. Seit die National Alliance Party an die Macht gekommen ist, verschwinden nicht nur Menschen in Irland, sondern auch Gewissheiten. Eine Anklage gegen Larry gab es nicht, sein Aufenthaltsort ist allenfalls ein Gerücht.
Eilish hat 4 Kinder, die sie nun neben ihrem Beruf als Mikrobiologin allein versorgen muss, der noch 16jährige Mark, Molly und Bailey im besten Pubertätsalter und Nachzügler Ben, der gerade erst das Laufen lernt.
Eilish redet sich ein, dass sich das Missverständnis einer Verhaftung und Inhaftierung schon klären wird. Aber die Unruhen im Land nehmen zu, die Nachbarn beäugen sich gegenseitig misstrauisch, Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst und dann steht da die Einberufung Marks zum Militär ins Haus, der eigentlich seine Schule noch beenden und dann studieren wollte.
Wir gehen mit der Familie Stark durch eine unruhige und sich zuspitzende Zeit von Grenzschließungen, Lebensmittelverknappungen, Stromsperren und Eilishs Jobverlust, als dann mit den Schulschließungen endgültig die Lage im Land eskaliert.
Mark entzieht sich der Einberufung, eine Flucht zu Eilishs Schwester nach Kanada ist geplant. Aber kaum hat sich Eilish aus iherer Lähmung befreit, ist es für nächste Schritte auch schon zu spät. Ihre Kinder hingegen positionieren sich eindeutiger, selbst der zunehmend dement werdende und auf Hilfe angewiesene Großvater sieht in seinen klaren Momenten die Gefahren, die auf die Familie zukommen.
Mit seinem Setting bleibt Lynch im intimen Raum der Familie, eigentlich ganz bei Eilish, ihren Beobachtungen, ihren Gedanken. Sie sieht die Zeichen, sie bemerkt die Veränderungen, sowohl bei ihren Kindern, als auch bei ihren Kollegen, ihren Nachbarn und Freunden. Sie fühlt sich weitgehend hilflos, gebunden bei ihren Kindern und ihrem pflegebedürftigen Vater. Jeder Versuch eines Widerspruchs, einer Auflehnung, der lebensrettenden Flucht kommt Lynch mit der gnadenlosen Deklination der Schrecken eines allesbestimmenden Staates zuvor.
Dieser Roman ist keine Dystopie im klassischen Sinne, es ist vielmehr der Aufruf zur Wachsamkeit, wenn Staaten sich nicht mehr an ihre eigenen Gesetze halten, wenn Notstandsverordnungen ein geregeltes Leben verunmöglichen und niemand sich seines Lebens mehr sicher sein kann. Die hier aufgeführten Mechanismen zur Unterwerfung der Bürger, kennen wir aus den Geschichtsbüchern, das bespielte Land ist uns aus Straßenschlachten um den wahren Glauben bekannt und tägliche Nachrichten verifizieren uns die Willkür der staatlichen Executive.
So poetisch Lynchs Sprache, so tief sind die Abgründe in die er uns hineinschauen lässt. Das Cover versinnbildlicht mit seinen scharfen Kanten und spitzen Winkeln die Verletzlichkeit einer vermeintlichen Sicherheit der Heimstatt, bis zu den bedrohlich augengleichen roten Fenstern. Eike Schönfeld übersetzte diese Klavaitur des Schreckens mutig und kraftvoll.
Nach der Lektüre fühlte ich mich betäubt, die Worte hallten nach und entfalteten nach und nach ihre Wirkung. Keine leichte Kost, keine gute Unterhaltung, vielmehr ein lauter Warnruf über all die Veränderungen in unserer Welt. Auf das uns das prophetische Lied den richtigen Weg weist!
„Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch spielt in einer düsteren, dystopischen Zukunft und thematisiert die Auswirkungen einer totalitären Regierung. Die Wahl von Dublin als Schauplatz verstärkt die Parallelen zu Irlands Geschichte politischer Unruhen. Das Verschwinden von Eilishs Ehemann Larry, einem führenden Gewerkschafter, zeigt die Repression gegen kritische Stimmen und betont die allgegenwärtige Bedrohung in dieser neuen Realität.
Eilishs unerschütterliche Hoffnung auf die Rückkehr ihres Mannes, trotz aller Widrigkeiten, zeigt die menschliche Fähigkeit, selbst in extremen Zeiten an Hoffnung festzuhalten. Ihre Weigerung, die Realität anzuerkennen, verleiht der Geschichte eine tragische Note. Ihr Alltag, geprägt von der Pflege ihres Vaters und der Sorge um ihre Kinder, spiegelt ihren Versuch wider, in dunklen Zeiten Normalität zu bewahren.
Das Verschwinden Larrys zwei Wochen vor Weihnachten und der folgende Sommer betonen die andauernde Krise und deren tiefgreifende Auswirkungen auf ihr Leben. Die Geschichte beleuchtet die Spannungen zwischen individueller Widerstandskraft und einem repressiven Regime und fragt, wie viel ein Mensch bereit ist zu opfern, um zu überleben.
Der Schreibstil ist herausfordernd, mit wenigen Satzzeichen, fehlender wörtlicher Rede und langen, dichten Kapiteln. Die Sprecher sind oft nur aus dem Kontext erkennbar. Durch den Verzicht auf eine klare Struktur wird die direkte, ungefilterte Darstellung der Gedanken und Eindrücke der Figuren verstärkt, was intensive Reaktionen hervorruft. Lynchs Entscheidung, den Roman in Dublin anzusiedeln, macht die Handlung real und nicht dystopisch.
In diesem bedrohlichen Kontext wird die düstere, poetische Beschreibung der Bedrohlichkeit und die emotionale Intensität durch diese besondere Sprache verstärkt.
„Sie sieht Polizisten mit Knüppeln, die die Demonstranten zu unterwürfigen Gestalten prügeln …“ (S. 37)
Dieser Satz reflektiert kritisch staatliche Gewalt und die Unterdrückung von Protesten, indem er eine reale Situation schildert, in der die Polizei Demonstrierende gewaltsam niederschlägt. Die Dystopie ist hier bereits Realität.
Der Autor vermittelt die Ereignisse aus Eilishs Perspektive, was eine tiefere emotionale Verbindung ermöglicht. Der Leser erfährt die Auswirkungen des Machtwechsels unmittelbar durch ihre persönlichen Erlebnisse. Während der Fokus auf dem Alltäglichen liegt, stören politische Umwälzungen den gewohnten Rhythmus und offenbaren die Mechanismen der Verdrängung. Eilishs Vater bezeichnet die Opposition als „Terroristen“, was auf propagandistische Intentionen hinweist, und der Bürgerkrieg wird von Außenstehenden als bloße Unterhaltung betrachtet, was die Isolation und das mangelnde Verständnis verdeutlicht.
Der Roman ist nicht nur eine einfache Geschichte, sondern trägt eine tief emotionale und poetische Tiefe in sich, die die Leser:innen wie ein ergreifender Klagegesang berühren soll. Er warnt vor einer möglichen Zukunft, wobei die Politik im Hintergrund bleibt und der Mensch, hier Eilish, im Vordergrund steht. Eilishs Träume vermischen sich mit der Realität, wie in der Szene, in der John Stamm in ihrem Schlafzimmer steht und das Gesetz zitiert. Dieser Moment, der zunächst als Realität erscheint, erzeugt eine beklemmende, fast angsteinflößende Atmosphäre.
Paul Lynch integriert das Thema Demenz in seinen Roman durch Eilishs Vater, der trotz seiner Krankheit das Geschehen draußen genau beobachtet und richtig deutet. Demenz dient als Symbol für den Verlust von Geschichte und Kultur und verdeutlicht, wie Gesellschaften ihre gemeinsamen Erinnerungen verlieren oder verdrängen.
Fazit
Der Roman entführt die Leser aus ihrer vertrauten Welt und präsentiert eindringliche Bilder, die alltägliche Situationen in einem neuen, oft verstörenden Licht zeigen. Durch die Erlebnisse der Protagonisten Eilish und Larry wird die Geschichte auf eine persönliche und emotionale Ebene gebracht, wodurch beim Leser Empathie geweckt und die abstrakte Bedrohung durch den Faschismus greifbarer wird. Die individuellen Dilemmata und Entscheidungen der Charaktere verdeutlichen die unmittelbaren Auswirkungen politischer Entwicklungen auf das Leben des Einzelnen. Obwohl der Roman oft als Dystopie bezeichnet wird, könnten die beschriebenen Zustände als fern oder unrealistisch erscheinen. Tatsächlich spiegeln sie jedoch die gegenwärtige Realität wider. Deshalb sollte der Roman eher als Spiegelbild der aktuellen Gesellschaft oder als scharfe Kritik an realen sozialen Missständen verstanden werden.
Eilish Stack lebt zusammen mit ihrem Mann Larry und den vier Kindern Mark, Molly, Bailey und Baby Ben in einem Vorort von Dublin. Sie kümmert sich ebenfalls um ihren demenziell erkrankten Vater Simon. Offenbar hat es kürzlich einen politischen Umbruch gegeben, dessen Hintergründe jedoch nicht Gegenstand des Romans sind. Larry steht als Gewerkschaftsfunktionär aufgrund der nach rechts gerutschten politischen Verhältnisse enorm unter Druck. Notstandsgesetze werden erlassen, der Rechtsstaat mit seinen Grundrechten ausgehebelt. Die ehemals heile Welt der Familie Stack fällt schrittweise auseinander.
Die Gefahr wird konkret, als Larry von einer Gewerkschaftsveranstaltung nicht nach Hause kommt. Eilish bemüht sich erfolglos, Nachricht von ihrem Mann zu bekommen, doch er bleibt verschollen. Der Verlust Larrys ist nur ein erster Schicksalsschlag, den Eilish zu bewältigen hat, weitere folgen. Der Roman bleibt dicht bei der Protagonistin, die nun die Familiensorge allein tragen muss. Außer zu ihrer in Kanada lebenden Schwester und ihrem Vater hat sie keine nennenswerten Kontakte oder Vertrauenspersonen. Beruflich wird Eilish degradiert, der 16-jährige Mark soll zum Wehrdienst eingezogen werden, auch die anderen Kinder haben eigene Vorstellungen, wie sie mit der Grenzsituation umgehen. Repressalien folgen, Lebensmittel werden knapp, die Kontrollen immer schärfer. Das System funktioniert und der Strick um Familie Stack zieht sich immer enger.
Was soll Eilish in dieser verfahrenen Situation tun? Was ist überhaupt möglich, wenn einen Berufs-, Familien- und Tochterpflichten die letzte Kraft rauben, wenn man vor Sorgen um die Liebsten nicht in den Schlaf kommt? Lynch demonstriert aus meiner Sicht großes schriftstellerisches Können, indem er uns Ängste und Hoffnungen ebenso wie Überforderung und Schwäche seiner Protagonistin nahebringt, ohne auf Gefühligkeit oder Voyeurismus zu setzen.
Die Sprache klingt poetisch, stellenweise sogar lyrisch. Eilishs Gefühle und Eindrücke werden in anschaulichen Bildern mit treffgenauen Metaphern wiedergegeben, die tiefe Einblicke in das Seelenleben der vierfachen Mutter zulassen. Die Dichte des Textes hat mich von der ersten Seite an gefangen genommen. Man partizipiert am Geschehen, man verfolgt Eilishs Handlungen und Entscheidungen, die man zwar nicht immer gutheißen kann, die sich jedoch nach den überschaubaren Alternativen ausrichten. Eilish ist keine Heldin, sondern eine ganz normale Frau. Gerade das macht das Geschehen so nachvollziehbar.
Im Verlauf des Romans überkommt den Leser wiederholt das kalte Grauen. Wenn auch das Setting dystopisch angelegt ist, spürt man deutlich, dass es ähnliche Szenarien in Diktaturen und totalitären Systemen schon immer gegeben hat: Festigung des Machtanspruchs durch Gewalt, Folter, Diskriminierung und Willkür führen zu Flucht und Vertreibung. Die Verortung ist dabei vollkommen zweitrangig, der Text kann exemplarisch rezipiert werden. Lynch lässt bewusst politische Details beiseite. Es ist letztendlich egal, von welcher Seite Extremismus aufzieht, die Mittel zur Unterdrückung des Volkes und zur Beseitigung von Staatsfeinden sind stets dieselben. Der Autor beschreibt dieses System der Macht mit dem Fokus auf einer Frau mit ihrer Familie. Ihn interessiert dieser Mikrokosmos und genau der ist es, der das Buch so packend, so schmerzhaft, so authentisch macht.
Sprachlich ist das Ganze virtuos. Ein gehöriges Lob gebührt auch dem Übersetzer Eike Schönfeld, der die Sprachmelodie dieses herausfordernden Textes wunderbar ins Deutsche übertragen hat. Es gibt zahlreiche wunderschöne, prosaische Passagen. Zitate fallen jedoch schwer, weil Eins ins Andere fließt und der Kontext nicht verloren gehen darf. Ich empfehle jedem Interessierten unbedingt einen Blick in die Leseprobe. Die außergewöhnliche Sprache sollte man mögen.
Ich verstehe den Roman als Weckruf für alle, die sich demokratiemüde nach einem starken Mann an der Spitze sehnen. Lynch zeigt, wohin dieser Wunsch führen kann. „Das Ende der Welt ist immer ein lokales Ereignis, es kommt in dein Land und besucht deine Stadt und klopft an die Tür deines Hauses und wird für andere eine ferne Warnung, ein kurzer Bericht in den Nachrichten, ein Echo von Ereignissen…“ (S. 306)
Für mich ist „Das Lied des Propheten“ ein sehr würdiger Man Booker Preisträger 2023.
Riesige Leseempfehlung für diesen eindringlichen, brandaktuellen Roman!
Das Setting dieses Romans ist Dublin in einer nahen Zukunft. Eine totalitäre Gruppe hat die Regierungsgeschäfte übernommen. Es herrscht ein staatlich per Notverordnung angeordneter Ausnahmezustand.
Eilish, Mikrobiologin und Mutter von vier Kindern, muß ihr Leben nach dem abrupten Verschwinden ihres Ehemannes Larry, stellvertretender Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Irlands, allein meistern und sich zudem um ihren dementen Vater kümmern. Larry wurde vom sog. Garda National Services Bureau vorgeladen und ist seit dem verschwunden.
Anfänglich noch auf die Rückkehr Larrys hoffend, muß Eilish erleben, wie sich die Lage in der Stadt immer mehr verschlechtert. Die Preise steigen, Lebensmittel werden knapp, Ausgangssperren werden verhängt, Elektrizität und Wasser werden rationiert. Dennoch hofft Eilish auf die Rückkehr Larrys, kümmert sich um ihren Vater, der immer dementer wird. Doch auch ihr ältester, erwachsener Sohn verschwindet, als er sich einer immer größer werdenden Gruppe aufständiger Rebellen anschließt. Larry ist zwei Wochen vor Weihnachten verschwunden und im darauf folgenden Sommer immer noch nicht zurückgekehrt.
Die Situation hat sich noch mehr zugespitzt und Eilishs Leben immer unmittelbarer ergriffen. Sie hat ihren Job verloren und weiß nicht, wie es mit den Kindern, einem Säugling und zwei pubertierenden Teenagern weitergehen soll. Die Allmacht des Staates wird übermächtig, Bürgerkieg bricht aus. Ist das Angebot der in Kanada lebenden Schwester, sie und die drei Kinder aufzunehmen, die Rettung ? Ist Flucht die Lösung und kann sie überhaupt gelingen ?
Das "Lied des Propheten" ist ein in lyrisch anmutender, metaphorischer Sprache erzählter Roman. Es ist, als singe hier der Erzähler ein Lied von einer dunklen, sich unendlich steigernden Bedrohung. Diese albtraumhafte Bedrohung wird zur Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, in der Staatswillkür, Unfreiheit, Grausamkeit und schließlich Krieg und Zerstörung den Alltag beherrschen. Alle, die nicht "mitspielen" und sich bedingungslos unterwerfen, werden in größter menschlicher Not enden.
Mit dieser Geschichte prophezeit der Autor für die westeuropäische Stadt Dublin eine düstere Welt, bei der ich in fast jeder Szene vor Augen hatte, dass sich in etlichen Ländern dieser Erde das hier Prophezeite so oder so ähnlich bereits jetzt abspielt. Inmitten dieses Szenarios nun Eilish, auf deren Empfindungen und Verhalten angesichts der Bedrohung für Leib und Seele ihrer ganzen Familie der Fokus gelegt ist. Durch die lyrisch metaphorische Sprache geling es dem Autor, den Leser unmittelbar in die Gefühlswelt seiner Protagonistin hinein zu katapultieren. Sie ist überfordert, nervlich am Ende, macht, von Außen betrachtet, vieles falsch.
Das zu lesen ist schmerzhaft, tut weh, ist kaum auszuhalten. Ich hatte phasenweise das Gefühl, selbst Eilish zu sein. Durch die lyrische Sprache erschafft der Autor zudem eine alles beherrschende unheilvolle Atmosphäre, die sich durch den ganzen Roman zieht. Grandios gemacht ! Seht her, singt der Prophet, was über Euch kommen kann, wenn Ihr die unheilvollen Zeichen nicht erkennt. Aber wie unendlich schwer es ist, in solchen Zeiten das "Richtige" zu tun, wird genauso deutlich. Umso mehr steigt beim Lesen die Empathie für alle, die auf dieser Welt bereits tagtäglich ähnlichen Greueln ausgesetzt sind und denen als letzter Ausweg nur die Flucht bleibt.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass der Autor es zuweilen mit der Metaphorik und der Schöpfung neuer Worte übertrieben hat. Insofern sehe ich seinen Sprachstil als unreinen Diamanten, der seine Strahlkraft hierdurch keineswegs eingebüßt hat.
5 Sterne für diesen erschütternden, grandiosen Roman !
Wie würdest du handeln, wenn sich das demokratische Land, in dem du lebst, zu einem totalitären Staat wandelt und ein Bürgerkrieg ausbricht?
Das ist die Kernfrage, mit der sich der irische Autor Paul Lynch beschäftigt. Zwar verortet er die Romanhandlung nach Irland, aber letztlich könnte sie in jedem demokratischen Land spielen, in dem mittels Notverordnungen demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien außer Kraft gesetzt werden.
Am Beispiel der Mikrobiologin Eilish, deren Ehemann Larry als stellvertretender Gewerkschaftssekretär der Lehrergewerkschaft tätig ist und die gemeinsam vier Kinder haben -
den fast erwachsenen Mark
die pubertierende Molly
den 12-jährigen Bailey und
das Kleinkind Ben -
erzählt Lynch sehr poetisch, welche Auswirkungen ein totalitäres System auf den einzelnen (Durchschnitts-)menschen hat, der mit staatlicher Willkür konfrontiert wird.
Im ersten Kapitel wird dabei das Szenerio der Bedrohung in dichter metaphorischer Sprache dargelegt. Jeden Satz muss man sorgfältig lesen, damit einem nichts entgeht. Gleichzeitig entsteht Eindringlichkeit durch die vielen Wiederholungen. Auch die kurzen Ellipsen erzeugen ein Gefühl von Dringlichkeit, daneben die langen, verschachtelten Sätze mit vielen Adjektiven, die trotzdem nicht überladen wirken. Die Zeitform Präsens sorgt dafür, dass man quasi am Geschehen teilnimmt.
"Doch da, das Klopfen. Sie hört, wie es ins Denken dringt, das harte, beharrliche Hämmern, ein jedes Klopfen so voll vom Klopfenden erfüllt, dass sie die Stirn runzelt." (9)
Die Klopfenden sind zwei Polizisten der neu gegründeten Geheimpolizei, die ihren Mann sprechen wollen, der jedoch nicht zu Hause ist.
Nachdem sie das Haus verlassen haben, ist "etwas von diesem Dunkel ins Haus gekommen." (S.11)
Erzählt wird hauptsächlich aus der Perspektive Eilishs. Ihre Sicht auf die Ereignisse stehen im Vordergrund, als Leser:innen erfahren wir nicht mehr als sie, d.h. Hintergründe, wie es zur Machtübernahme bzw. der Veränderung hin zu einem totalitären System gekommen ist, bleiben im Dunkeln.
Um für die Verfassungsrechte zu kämpfen, will die Lehrergewerkschaft eine Demonstration veranstalten, an der Larry teilnimmt und von der er nicht wiederkehrt. Eilish erhält keinerlei Informationen, es findet weder eine Haftprüfung statt noch kann der Anwalt der Gewerkschaft etwas ausrichten.
Eilish, die sich um ihren Vater kümmern muss, der zunehmende Anzeichen einer Demenz zeigt, ist mit der Situation überfordert. Sie bemüht sich die Familie zusammenzuhalten, beruhigt und belügt auch die Kinder und versucht sie zu beschützen, während Irland sich in einen totalitären Staat verwandelt, in der die Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden.
Erst jetzt wird Eilish bewusst, in welchem alltäglichen Glück sie zuvor gelebt haben.
"Das Glück, das in dem Stumpfsinn steckt, wie es indem alltäglichen Hin und Her lebt, als wäre das Glück etwas, was nicht gesehen werden soll, als wäre es ein Ton, den man erst hören kann, wenn er aus der Vergangenheit schallt" (S.50) Eine wunderbare Beobachtung - wie oft nehmen wir unser alltägliches Glück nicht wahr.
Mit jedem Kapitel steigt die Bedrohung. Die Frage, der sich Eilish stellen muss, ist, ob sie ihr Zuhause verlassen oder bleiben soll, in der Hoffnung, dass Larry zurückkehrt.
Dass sie teilweise sehr unvernünftig handelt, wurde ausführlich in der Leserunde diskutiert und die meisten waren der Meinung, dass wir es uns kaum anmaßen können, über sie in dieser Ausnahmesituation zu urteilen. Wie würde ich im Angesicht der Bedrohung handeln? Würde ich aktiv Widerstand leisten oder versuchen meine Familie zu beschützen? Würde ich versuchen, das Land zu verlassen?
Trotz dieser drängenden Fragen und der zunehmenden düsteren, bedrohlichen Atmosphäre begeistert die Sprache des Romans - trotz einiger schiefer Metaphern oder auch einiger weniger unglücklichen Übersetzungen. Insgesamt ist die Übersetzung dieser dichten, lyrischen Sprache von Eike Schönfeld bewundernswert.
Der Roman regt in vielerlei Hinsicht zum Nachdenken an, v.a. wie schnell die Entwicklung hin zu einem totalitären Staat vollzogen werden kann und wie lange die Protagonisten dies nicht wahrhaben wollen. Lynch entwirft keine Dystopie, sondern ein mögliches Szenario, das durchaus Realität werden könnte. Er prophezeit, was sein wird, wenn wir nicht achtsam sind.
Passend auch das Brecht-Gedicht, das dem Roman vorangestellt ist:
In den finsteren Zeiten,
Wird da auch gesungen werden?
Da wird auch gesungen werden.
Von den finsteren Zeiten.
Gerade in dunklen Zeiten braucht es die Stimme der Literatur - auch wenn sie augenscheinlich nicht viel ausrichten kann, ist sie doch ein Zeugnis dessen, was geschieht bzw. was geschehen könnte.
Eilish ist Mikrobiologin und gehört der ‚Sandwich-Generation‘ an. (Zwischen 40 – 60 Jahre alt und ‚eingeklemmt‘ zwischen den Verpflichtungen für sich, der Verantwortung für ihre Kinder und jener für den immer mehr auf ihre Hilfe angewiesenen Vater) Jede, die schon einmal in dieser Situation war (wie z.B. ich), weiß, welche Herausforderungen dies bedeutet. Sehr hilfreich dabei ist eine starke Partnerschaft, in der der andere manche Aufgaben auffängt und durch einen steten Austausch den Rücken stärkt.
Leider steht bei Familie Stack in Irland der Partner (Larry, der stellvertretende Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Irlands) nicht mehr zur Verfügung, da die Regierung (NAP, nationalistisch orientiert) eine Notverordnung verabschiedet hat, die Garda National Services Bureau (GNSB) Larry vorgeladen hat und er danach verschwunden ist. Seitdem muss Eilish sich allein um ihre 4 Kinder (Mark 16, Molly 14, Bailay 12 + der halbjährige Ben) und ihren Vater, bei dem die Demenz immer mehr fortschreitet, kümmern.
Was dann folgt, ist einem durch Beschreibungen der NS-Zeit (besonders für Juden und anderen Menschen, die nicht ins Schema passten) und weiterer Unrechts-Regime leider allzu bekannt: Willkür, Menschen ‚verschwinden‘, Kündigungen ohne Grund, Schulen und Hochschulen schließen, Einschränkungen der Einkaufsmöglichkeiten, Chaos und weiteres mehr. Sehr gut und prägnant drückt das Eilish‘ Vater gleich im 1. Kapitel aus: „……..die NAP versucht zu verändern, was du und ich Wirklichkeit nennen, sie wollen sie verschmutzen wie Wasser……..“
Ich konnte dieses Buch nur in kleinen Portionen lesen, weil es mich vollkommen aufwühlte. Die Sprache des Autors trägt auch sehr dazu bei, dass die Beklemmung stetig wächst und das Grauen in mir hochstieg: er verzichtet auf sichtbare wörtliche Rede und immer wieder auch auf Punkte. Die Angst und die wachsende Panik von Eilish konnte ich sehr gut nachvollziehen und mitfühlen.
Völlig zurecht hat Paul Lynch mit diesem Buch (übersetzt von Eike Schönfeld) 2023 den Booker Prize gewonnen! Ich vergebe hierfür auch gerne die Höchstzahl von Rezensions-Sternen. Nachdem der Leser mit etlichen heftigen Szenen konfrontiert wird, rate ich jedoch sensiblen Gemütern von dieser Lektüre ab!
Was eine Diktatur mit den Menschen macht – beklemmend und verstörend – in poetisch-verdichteter Sprache
Ein abendliches heftiges Klopfen reißt Eilish aus ihrer ersehnten Ruhe; zwei Männer der neuen Geheimpolizei wollen ihren Mann Larry, stellvertretenden Sekretär der Lehrergewerkschaft, sprechen. Weil er nicht da ist, wird er noch sehr spät am Abend in die Polizeiwache bestellt. Die Drohung: er soll keine Demonstration organisieren. - Schon von den ersten Zeilen an baut sich eine beklemmende, bedrohliche Atmosphäre auf; der Leser ahnt Unheilvolles.
'Es ist etwas ins Haus gekommen, etwas Dunkles …' (11)
Da aber Larry und auch Eilish, Molekularbiologin, an die Rechtsstaatlichkeit glauben, findet die Demonstration statt. Larry kehrt von ihr nicht zurück; es gibt keinerlei Nachrichten über seinen Verbleib. Vermutlicherweise wird er mit vielen anderen in einem Internierungslager gefangen gehalten. - Nun steht Eilish alleine da, Mutter von vier Kindern: dem fast 17-jährigen Mark, Molly, Bailey und Ben, einem Nachzügler, noch ein Säugling. Zu allem Überfluss muss sich Eilish auch noch um ihren zunehmend dementen Vater kümmern.
Wie es ihr mit all dem geht, vermittelt der Autor in einem atemlos wirkenden Stil, einer Art stream of consciousness, ohne Kennzeichnung der wörtlichen Rede, in einer verdichteten, lyrisch anmutenden Sprache mit vielen assoziativen Bildern, aufgeladen mit Symbolik. Man muss nicht jedes einzelne Bild verstehen oder hinterfragen; manches wirkt alleine durch die beklemmenden, intensiven Gefühle, die auch im Leser wachgerufen werden.
Der Spruch 'Wehret den Anfängen' passt schon lange nicht mehr, denn eine nationalistische Partei ist mit Mehrheit gewählt, was ihr die Möglichkeit gibt, alles an sich zu reißen und mit Hilfe einer Geheimpolizei durchzusetzen. Die anfangs so kleinen Zeichen und Gerüchte verdichten sich immer mehr, die bürgerlichen Rechte werden abgeschafft, eine Notverordnung mit besonderen Befugnissen ist schon erlassen. Schutz vor willkürlicher Verhaftung ('Habeus Corpus') gibt es nicht mehr. Was kann denn noch passieren?
Vieles anfangs Undenkbare ist möglich: Ausgangssperren, Internetsperre, Kontrolle der Medien, Mangelversorgung, Gewalt bis hin zum Bürgerkrieg, denn es gibt durchaus Tendenzen, sich zu wehren: eine Rebellenarmee hat sich formiert.
Das Politische ist lebensbestimmend, aber Eilish muss sich um ihre Familie kümmern, um vier Kindern und einen dementen Vater, für die sie da sein muss, so unterschiedlich im Alter und somit in ihren Bedürfnissen. Erst mal versucht sie, die Wahrheit vor ihnen zu verbergen oder sie nur stückweise zu enthüllen. Soll sie ihren Kindern sagen, dass der Staat 'zum 'Monster geworden ist'? (43 u.)
Eilish könnte versuchen, zu ihrer Schwester in Kanada zu fliehen, aber wegen ihres verschwundenen Mannes, wegen des älteren Sohnes, inzwischen vermutlicherweise bei den Rebellen und wegen des dementen Vaters steckt sie in einem Dilemma. Sie versucht verzweifelt, den Alltag zu bewältigen, was durch den atemlosen Stil des Romans eindringlich vermittelt wird.
Wie wird es weitergehen? Lebt Larry noch? Werden alle aus der Familie fliehen, fliehen können?
Die Geschichte ist in Irland angesiedelt und kommt manchem dystopisch vor. Nach meiner Ansicht trifft beides nicht zu. Alle Elemente eines totalitären Staates und der chaotischen Vorkommnisse können überall in der Welt beobachtet werden. Anscheinend hat der Autor verschiedene Elemente aus der real existierenden Welt in diesem roman zusammengebracht, um zu verdeutlichen, welche Auswirkungen es auf den Einzelnen, auf eine Familie haben kann: das Grauen von Tod und Verlust, Gewalt und Krieg.
'Sie sieht vor sich das Bild einer zerschlagenen Ordnung, wie die Welt in ein dunkles, fremdartiges Meer abdreht.' (51)
Dies alles wird wort- und bildgewaltig, geradezu lyrisch anmutend vermittelt und dringt mehr in den Leser ein als ein sachlicher genauer Bericht es jemals könnte. Jedenfalls ging es mir so mit diesem Buch, das nicht leicht zu verkraften ist, aber sehr eindringlich Gedanken auslöst und Fragen aufwirft, die der Leser sich stellen kann.
Eilish gewinnt die Erkenntnis: 'Dein ganzes Leben lang hast du geschlafen, wir alle haben geschlafen, und jetzt beginnt das große Erwachen. (45).
Fazit
Lyrisch verdichtet arbeitet der Roman mit Sprachbildern und ungewöhnlichen Zusammensetzungen, die manchmal nur intuitiv zu erfassen sind, atemlos, im Präsens, ohne Zeichen der wörtlichen Rede, voller symbolischer Bilder. In diesem Zusammenhang muss man den Übersetzer Eike Schönfeld erwähnen, für den das sicher keine leichte Aufgabe war und der es nach meiner Meinung hervorragend gelöst hat.
Das Buch spiegelt den Seelenzustand einer Frau wieder, die ihre Familie unter den schlimmsten Zuständen zu retten versucht. Dieses Buch hat mir einiges abgefordert, es hat mich mitgenommen, fast verstört, aber ich habe ein bisschen mehr Verständnis dafür gewonnen, wie es Menschen ergehen mag, die unschuldig in die Fänge eines zunehmend totalitär agierenden Regimes gelangen. Parallelen liegen deutlich auf der Hand.
Ein Roman wie ein Gedicht, eine verdichtete Welt, verdichtete Sprache.
Kurzmeinung: Düstere Prophetien werden immer angefeindet!
"Die tägliche blutige Soap Opera im Fernsehen sind wir für die übrige Welt geworden", sagt Molly, die halbwüchsige Tochter der Protagonistin Eilish, als sich ihre Heimat in atemberaubender Geschwindigkeit von einer halbwegs funktionierenden Demokratie in einen totalitären Willkürstaat verwandelt mit allem, was dazugehört.
Ihre Nachbarn mit ausländischem Namen sind verschwunden, keiner weiß wohin, vom abgeholten Ehemann keine Spur, der Sohn im sich formierenden Widerstand, von den zu den Nationalisten übergelaufenen Nachbarn gemoppt, in den Shops der Nachbarschaft nicht mehr bedient und vom Straßenmob bedroht – Eilish weiß nicht, wo ihr der Kopf steht. Den Job verloren, kaum fähig, einen dementen Vater noch mitzubetreuen, sie und die Kinder in Panik.
Der Kommentar und das Leseerlebnis:
Paul Lynch beschreibt in dem Lied des Propheten in vornehmlich dichter Poetik die Reaktionen einer Frau, die es kaum glauben und auch nicht verkraften kann, was um sie herum geschieht. Elish fühlt, „es ist etwas ins Haus gekommen, etwas Dunkles“, als die Beamten an ihre Tür klopften und ihre heile Welt zerstörten. Die Bedrohung ist den ganzen Roman über gegenwärtig und spürbar, grandios ist das geschildert und macht etwas mit mir. Wie schnell alles gehen kann! Und kaum wahrgenommen, ist die Situation erneut umgeschlagen. „Der Stil erlaubt keine Distanz“, schreibt eine Leserin.
Die Zerrissenheit, die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Empfindungen der Protagonistin, sind fast körperlich fühlbar in diesem Roman. Wer kann so ruckzuck realisieren, dass der Tod gewaltsam in die Familie gedrungen ist, wer kann so schnell realisieren, dass es keine Hoffnung mehr gibt und man das Land so schnell wie möglich verlassen muss. Ohne Rücksicht auf Verluste. Eilish fällt dies schwer und sie zögert zu lange, denn sie trauert. Sie kann nicht einmal mehr die Wucht des fröhlichen Frühlings aushalten, “she finds herself, wishing for a stop to spring, for the day‘s decrease, for the trees to go blind again, for the flowers to be taken back into the earth, for the world to be glassed to winter.” Aber die Welt nimmt keine Rücksicht, sie dreht sich weiter.
Paul Lynch schreibt ein Lied, eigentlich eine Saga, nicht unähnlich einer Edda oder einer Odyssee, natürlich literarisch nicht so hochrangig – aber er versucht es und kreiert dafür eine eigene Sprache! Heldenlieder sind naturgemäß blumig. Die vielen innovativen Sprachbilder und Wortspiele, die im englischen Original immer schlüssig wirken, sind in der deutschen Übersetzung manchmal eine zu große Herausforderung gewesen. Und besonders in der Mitte des Romans tue ich mich mit dem opulenten Stil des Autors schwer– mit der Zeit wirkt opulenter Stil monoton und wird anstrengend. Hier hätte ich mir mehr Schlichtheit gewünscht.
Dennoch bleiben genug gelungene Sprachbilder auch im Deutschen übrig, die die gewünschte Wirkung auf mich haben: bedrückend. „Das Lied des Propheten“ ist ein düsteres Lied!
Paul Lynchs Roman ist eine Warnung zur Wachsamkeit, ein prophetisches Wort: so wird es kommen, wenn ihr nicht aufpasst, so wird es kommen, wenn ihr nicht rechtzeitig dagegen steuert! Und überall sehen wir Anzeichen dafür, auch in Deutschland, dass wir in Gefahr sind, unsere Demokratie zu verlieren. Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig. Freilich wirkt so ein Sauerteig in beide Richtungen. Einige wenige Gruppierungen können die Demokratie zu Fall bringen – einige beherzte Wenige können sich dem Verfall jedoch auch entgegenstellen.
Angesichts des gewaltigen Rechtsrucks in der gesamten Welt ist "Das Lied des Propheten" von Paul Lynch zu Recht der Sieger des letztjährigen Man Booker Prize 2023 geworden.
Fazit: Ein gelungenes Klagelied als Abgesang der Demokratie. Möge es nicht so weit kommen.
Kategorie: Anspuchsvolle Literatur
Verlag: Klett Cotta, 2024
Sieger: Man Booker Prize 2023
Ich möchte gleich mit einem Zitat von Sebastian Fasthuber aus der österreichischen „Falter“, Ausgabe 29/2024 beginnen: „Das Lied des Propheten lässt sich als Schlüsseltext über die Gefahr des allerorts erstarkenden Faschismus lesen.“
Meinen Dank an Klett-Cotta, dass Sie den Mut gefunden haben, dieses Werk auf Deutsch zu veröffentlichen.
Es fällt mir schwer, diese Rezension zu schreiben, zu stark ist noch der Eindruck, den dieser Roman bei mir hinterlassen hat.
Worum geht es? Wir befinden uns in Irland in der Jetzt-Zeit. Soeben wurde eine neue Geheimpolizei gegründet und eine Art von Notstandsgesetzen ausgerufen. Hier ist sowieso immer Vorsicht geboten, da alle – oder viele der „normalen“ Gesetze damit außer Kraft gesetzt werden. So kommen zwei Geheimpolizisten an die Tür der Protagonistin Eilish, der promovierten, tätigen Mikrobiologin, und wollen ihren Mann Larry sprechen. Er ist ein bekannter Lehrer und Gewerkschafter. Kurz danach wird Larry zum Verhör einbestellt und danach hört man nichts mehr von ihm. Niemand weiß, ob er noch lebt oder wo er sein könnte. Auch Mark, der ältere Sohn der Familie verschwindet, aber zunächst wohl aus eigenem Antrieb, er möchte sich den Rebellen anschließen. Auch bei den jungen Rebellen greift die Gier nach Macht schnell um sich. Von Mark hört man nicht mehr viel und später gar nichts mehr. Verbleiben in der Familie bei der Mutter: Molly, die Tochter, der Säugling Ben und Bailey, der Zwölfjährige. Eilishs dementer Vater lebt auch in der Nähe und wird von ihr betreut. Eilishs Schwester in Kanada möchte, dass die ganze Familie zu ihr kommt und gibt auch viel Geld und Kontakte. Wie es weitergeht, möchte ich hier nicht verraten.
Der Schreibstil ist extrem gewöhnungsbedürftig, es gibt wenig Satzzeichen, keine wörtliche Rede, die als solche erkennbar wäre, auch die Sprecher erkennt man mehr oder weniger nur aus dem Zusammenhang. Der Text ist dicht an dicht, lange Kapitel, nur ein paar Absätze.
Ein paar Zitate finde ich erwähnenswert. S. 32: „… dass alle Jungen erwachsen werden und von zu Hause weggehen, um die Welt unter dem Vorwand, sie zu richten, zugrunde zu richten, so will es die Natur.“ S. 37: „Sie sieht Polizisten mit Knüppeln, die die Demonstranten zu unterwürfigen Gestalten prügeln …“ (Kommt uns das bekannt vor?) S. 43: „Michael, sagt sie, dass du ihn nicht sehen darfst, das verstehe ich nicht, ich habe selbst im Gesetz nachgeschaut, in den Verträgen, das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts, also sag mir, warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?“ (Das fragt man sich in diesem Land auch oft!) S. 97: „… wenn diese Proteste nichts bringen, weiß ich schlicht nicht, was ich machen soll.“ (Geht uns das hier vielleicht genauso?) S. 103: „Früher oder später wird der Schmerz zu groß für Furcht, und wenn die Menschen die Furcht verloren haben, wird das Regime weichen müssen.“
Der erstarkende Faschismus macht sich auch bei uns breit, ein wenig anders, als im Roman geschildert. Da werden Andersdenkende diskriminiert, es werden Hausdurchsuchungen (man könnte alternativ auch sagen: Raubüberfälle) angeordnet. Viele politische Gefangene sitzen derzeit ein, völlig unberechtigt, mit z. T. an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen. Da werden Magazine verboten, Geld wird gestohlen (eingefroren hört sich doch besser an) etc. Viele Widerständler sind schon ins Ausland geflohen, Firmen mussten schließen oder alternativ auch auswandern …
Fazit: Man braucht überaus starke Nerven, um diesen Roman zu verkraften. Gerade in dieser schlimmen Zeit. Sich einzufühlen, aber sich dennoch nicht unterkriegen lassen. Respekt Mr Lynch, behalten Sie Ihren Mut und Ihre Widerstandskraft!
Ahnungslos öffnet Eilish die Tür. Vor ihr stehen zwei Mitarbeiter einer Geheimpolizei. Was wollen sie? Eilish ist selbst Akademikerin. Sie und ihr Mann, der Gewerkschafter Larry, haben vier Kinder. Und nun diese zwei Gestalten, die Larry einfach verhaften. Es kann ja nichts Schlimmes sein. Doch Larry kehrt nicht zurück. Und allem Anschein nach kann kein Anwalt ihm helfen. Und es wird schlimmer. Eilishs Position verschlechtert sich. Manchmal wird sie im Laden übersehen. Das Geld wird knapper. Sie fragt sich, ob ihr Job noch sicher ist. Auch in ihrem Betrieb hat es Veränderungen gegeben. Und die Kinder leiden auch unter der Situation.
Eilish und Larry Stack, ihre Kinder Mark, Molly, Bailey und Ben - eine ganz normale Familie in Dublin. Sie geraten in die Fänge der Geheimpolizei, die von einer Regierung gegründet wurde, die von demokratischen Werten nicht mehr viel hält. Anstatt sich mit Menschen auszutauschen, die für andere eintreten, verhaftet der Staat sie. So können Gewerkschaften auch ausgeschaltet werden. Irgendwann sind die, die den Mund aufgemacht haben, verhaftet. Und die anderen halten den Mund. In einer Lage, die immer schlimmer wird, versucht Eilish eine gewisse Normalität aufrecht zu erhalten. Das fällt ihr alles andere als leicht. Sie darf nicht auffallen und doch will sie Larry zurückholen, ihren Kindern ein gutes Leben bereiten.
Ein Denkspiel darüber, wie schnell ein geordneter Staat, in diesem Fall Irland, in den Abgrund geraten kann. Dieser bedrückende Roman ist aufgrund der gewählten Stilmittel nicht für jeden leicht zu lesen. Und auch inhaltlich ist er schwer zu ertragen. Es geht tatsächlich alles den Bach runter, zumindest für die, die auf der vermeintlich falschen Seite stehen. Wo bleibt die Hoffnung? Schwer zu ertragen ist die Ungewissheit über das Schicksal einiger Menschen. Die Stimmung wird immer düsterer. Wenn man beginnt, zu überlegen wie es teilweise in der wirklichen Welt abläuft und da durchaus Ähnlichkeiten zu erkennen sind, kann einem Angst und Bange werden. Es ist die bekannte Welt, die man abwählt, die eigene Freiheit. Man sollte genau aufpassen, die Geister, die man ruft, wird man mitunter nicht mehr los. Und am Ende steht man ziemlich dumm da, wenn man noch lebt. Dieser Roman ist nicht leicht zu ertragen.
Die Trost- und Hoffnungslosigkeit des Inhalts dieses Romans wird auch mit dem Cover deutlich.
3,5 Sterne
Klappentext:
An einem regennassen Abend in Dublin öffnet die Wissenschaftlerin und vierfache Mutter Eilish Stack ihre Haustür und steht zwei Beamten der neu gegründeten irischen Geheimpolizei gegenüber. Sie sind gekommen, um ihren Mann Larry, einen bekannten Gewerkschafter, zu verhören. Kurz nach dieser Begegnung verschwindet Larry, und sehr schnell beginnen die Dinge in Eilishs Welt aus dem Ruder zu laufen.
Irland befindet sich in der Gewalt einer Regierung, die auf dem Weg in die Tyrannei ist. Eilish findet sich in der alptraumhaften Logik einer kollabierenden Gesellschaft wieder, angegriffen von unsichtbaren Kräften, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Sie ist gezwungen, alles zu tun, um ihre Familie zu schützen und alle zusammenzuhalten. Wie soll sie ihren Kindern erklären, was passiert ist, wenn sie nach dem Vater fragen? Wie wird ihr eigener zunehmend dementer Vater auf die gravierenden Veränderungen seines Alltags reagieren? Und wie weit wird Eilish selbst gehen, um sich und ihre Familie zu retten? »Das Lied des Propheten« ist ein atemloses Porträt einer Familie am Rande der Katastrophe, das stilistisch und emotional seinesgleichen sucht. Paul Lynchs meisterhafter Roman ist das Buch der Stunde – und ein Appell, die entstehenden autoritären Regime der Gegenwart zu bekämpfen.
Mein Lese-Eindruck:
Regierungswechsel in Irland, und die NAP, eine nationalistisch orientierte Partei, trägt den Wahlsieg davon. In rasantem Tempo setzt die Regierung nun die Mittel ein, die eine rechtslastige, faschistoide Regierung hat. So wird die ordentliche Gesetzgebung ausgeschaltet und durch Notverordnungen ersetzt, die Grundrechte werden beschnitten bzw. abgeschafft, Zensur, Geheimpolizei, willkürliche Verhaftungen, Ausgangssperren, Ausschaltung politischer Gegner, Sippenhaft und so fort. Das ist kein neues Szenario; die Geschichte, auch die Zeitgeschichte, bieten hinreichend Beispiele.
Die Regierung bzw. die Partei bleibt als dunkle, nicht greifbare Macht im Hintergrund. Der Autor rückt stattdessen eine Familie in den Mittelpunkt und zeigt, welche Auswirkungen der politische Rechtsruck auf diese Familie hat. Der Roman startet mit dem Verschwinden des Vaters, eines führenden Gewerkschaftlers, und es bleibt nun Sache seiner Frau Eilish, einer Wissenschaftlerin, ihre vier Kinder und ihren Vater durch das Chaos zu bringen und ihre Familie zu schützen. Der Familie droht die äußere und innere Zertrümmerung, wie es das Cover eindringlich zeigt. Eilish ist zunächst noch ungläubig, aber sie verliert sehr schnell das Vertrauen in einen Rechtsstaat. Es muss erst zum Äußersten kommen, bis sie sich zur Rettung ihrer Kinder durch die Flucht entschließt.
Eilishs steigende Angst und Panik zeigen sich sprachlich sehr eindrucksvoll. Die schnelle Abfolge der Sätze, die teilweise ohne Punkt und Komma ineinander übergehen, der Verzicht auf Anführungszeichen, die Atemlosigkeit der Sprache – das alles wirkt provozierend und macht das Lesen nicht einfach, aber der Autor schafft damit eine ungemein dichte Atmosphäre, die den Leser aufrüttelt.
Zugegeben: einige Metaphern fand ich zu gewollt, zu konstruiert – aber das tut der Botschaft dieses Romans keinen Abbruch: dem leidenschaftlichen Appell, die Demokratie zu schützen.
Eilish trägt ihr jüngstes Kind Ben auf dem Arm, als sie die Türe öffnet. Vor ihr stehen zwei Männer, die sich als Inspektoren des Garda National Services Bureau (GNSB) vorstellen. Sie sind gekommen, um Eilishs Mann Larry zu sprechen. Sie wollen einem Hinweis nachgehen, doch der ist nicht da.
Als Larry nach Hause kommt, insistiert Eilish, dass er sofort die Telefonnummer auf der Visitenkarte anruft, die einer der Inspektors ihr gegeben hat. Eigentlich wollte er sich erst morgen oder übermorgen darum kümmern, er ist schließlich ein viel beschäftigter Mann, als Lehrer und Gewerkschaftsvorstand doch sie wollen ihn sofort sehen und er fährt hin.
Im GNSB angekommen wird er beschuldigt zu Hass gegen den Staat aufgestachelt zu haben, Zwietracht und Unruhe gesät zu haben. Jemand aus der Schule habe sie auf Larry aufmerksam gemacht, es sei an ihm eine glaubwürdige Gegendarstellung zu liefern. Da die Vermutungen für eine Verhaftung nicht auszureichen scheinen, geht er wieder zu Eilish und den Kindern.
Die NAP National Alliance ruft die Notstandsverordnung aus. Ab jetzt ist von 20 bis 6 Uhr morgens Sperrstunde.
In den nächsten Tagen weicht Eilishs Unbehagen etwas Größerem.
Dieses neue Gefühl, das sich mit den beiden Männern ins Haus geschlichen hat, löst die Einheit innerhalb der Familie auf. S. 67
Die Kinder sind missmutig, weil sie in der Schule Repressalien befürchten. Larry kommt immer später nach Hause, ist morgens gereizt und verschlossen.
Die Gewerkschaft wehrt sich gegen die zunehmende Bevormundung durch den Staat und ruft zu einer Demonstration auf. Kurz nach Beginn eskaliert die Kundgebung, Pferde peitschen durch die Straßen, Polizeiknüppel schlagen auf Zivilisten, Tränengas nimmt ihnen die Luft zum Atmen.
Fazit: Paul Lynch hat ein düsteres Zukunftsszenario erschaffen, das mich stark an 1984 von George Orwell erinnert. Der totalitäre Staat reißt per Erlasse zunehmend Vollmachten an sich, die jede demokratische Gegenbewegung zerschlägt. Kontrolle, Beschneidungen, Verhaftungen bestimmen das Bild. Die Bevölkerung steht wehrlos dabei und muss ohnmächtig mitansehen, wie das Gespenst um sich greift und jede Aussicht auf ein Stück Selbstbestimmung zunichtemacht. Ich bin zugegeben keine große Freundin von düsteren Prophezeiungen, hätte der Geschichte aber einiges abgewinnen können, wenn der Autor mich berührt hätte. Seine Sprachakrobatik auf den ersten 220 Seiten, hat mich auf fast jeder Seite aus der Geschichte rausgehauen. Seine Metaphern, die ja eigentlich ein schönes Stilmittel sind, um im Kopf der Leser*innen Bilder entstehen zu lassen, unterirdisch:
…und ist die Lüge erst erkannt, bleibt sie aus dem Mund gewachsen wie eine totzüngelnde Giftblume. S. 59
…sich ein Chaos auftut, das sie alle in sein Maul ruft. S. 63
…betrachtet die langen gelben Finger, die den Mund um eine Zigarette bitten. S. 48
…sieht ihre Hand über eine blinde Kluft greifen. S.138
…sie ist von einem blinden Gipfel herabgestürzt. S.139
Weniger konstruierte Sprachbauten hätten der Geschichte guttun können. Weniger mit dem Kopf und mehr mit dem Herzen geschriebenes hätte mich mitreißen können. So richtig ins Buch hineingekommen bin ich erst ab Seite 220, als sich alles so zugespitzt hat, dass bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Dieses Buch zu lesen, war quälend.
Ich wollte dieses Buch so gerne mögen, weil es inhaltlich direkt am Puls der Zeit ist und aus meiner Sicht durchaus ein Augen öffnendes Buch hätte sein können. Aber ich tue mich unheimlich schwer damit, es nun richtig gut oder richtig schlecht zu finden. Keines von beidem ist der Fall, es pendelt irgendwo in der Mitte.
Lynch' Stil ist recht speziell und gewöhnungsbedürftig. Und er gönnt dem Leser quasi fast keine Atempause. Man wird direkt ab der ersten Seite mit dem Geschehen konfrontiert.
Ich bin kein Fan von Verzicht auf Absätze und direkte Rede und kann nur mutmaßen, warum der Autor dieses Stilmittel verwendet hat. Für mich war es mitunter schwierig Aussagen einzelnen Personen in einer Unterhaltung passend zuzuordnen. Hier ist es mir mehrfach passiert, dass ich Passagen nochmals lesen musste, um diese zu verstehen.
Es liest sich für mich einfach nicht flüssig. Dazu kommt, dass die Hintergründe für den immer wieder erwähnten „Nationalen Notstand“ eigentlich nie konkret benannt werden. Sie bleiben unsichtbar und abstrakt, man erfährt als Leser nur die Auswirkungen. Ich könnte mir vorstellen, dass es der Autor an dieser Stelle jedem Leser selbst überlässt, sich sein eigenes Horrorszenario auszumalen, dass zu solch drastischen Maßnahmen führt.
Im Grunde ist das ein geschickter Schachzug. Für mich hat es leider nicht funktioniert. Dieses Abstrakte hat bei mir dazu geführt, dass sich jede von Eilishs Handlungen aber auch ihre Emotionen sehr distanziert anfühlten. Ich konnte zwar grundsätzlich verstehen, was in ihr in den jeweiligen Momenten vorgeht; für mich war es nur nicht immer nachvollziehbar, hat mich kaum berührt. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt mich durch den oft gekünstelt wirkenden Schreibstil zu kämpfen.
Die Geschichte konzentriert sich auf Eilish, ihre Emotionen und die Auswirkungen auf ihre Familie nach der Verhaftung ihres Mannes. Diese sind erschreckend und man sollte sich wirklich vor Augen führen, ob diese staatlichen Handlungen so erstrebenswert sind, wie von manchen Zeitgenossen in den Äther geplärrt.
Mir ist das insgesamt aber ein wenig einseitig. Ich hätte mir hier gewünscht auch Reaktionen aus dem Ausland zu lesen oder aus den sozialen Medien, von Gegenbewegungen usw.
Mit einem ansprechenderen Stil hätte das Buch wirklich ein Pageturner werden können. Es bleibt für mich leider ein mittelmäßiger Versuch ein aktuelles Thema in Buchform zu bringen.
Beeindruckend und beklemmend
REZENSION – Bereits im vergangenen Jahr wurde der dystopische Roman „Prophet Song“ des irischen Schriftstellers Paul Lynch (47) mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Irish Book Award. Auch die im Juli als „Das Lied des Propheten“ beim Verlag Klett-Cotta veröffentlichte deutsche Fassung hätte einen Preis verdient. Wer dieses Buch gelesen hat, wird wohl nicht sofort mit dem nächsten beginnen können. Man braucht etwas Zeit, um diese aufwühlende Handlung über das schrittweise Erstarken des Rechtsextremismus und seine ungeahnten Folgen, die der Londoner „Telegraph“ in Anspielung an George Orwells Klassiker zu Recht „Irlands 1984“ nennt, verarbeiten zu können. Denn obwohl dieser Roman rein fiktiv und in der Republik Irland angesiedelt ist, muss er gerade auf uns deutsche Leser angesichts aktueller Wahlergebnisse in Ostdeutschland und ergänzt um das Wissen über das einstige Erstarken der Nazis und dessen Folgen, beängstigend wirken.
Lynch hat seinen Roman über die allzu leichte Zerbrechlichkeit westlicher Demokratien in seiner Heimat angesiedelt, wo ebenfalls rechtsextreme Parteien und Gruppen wachsen. In seiner Erzählung ist es die National Alliance Party (NAP), die schon zwei Jahre zuvor an die Macht gekommen ist und nun – die Parallele zur Machtergreifung der Nazis ist offensichtlich – durch ständig neue Notverordnungen sowie Einsatz der Gardaí-Polizei und des neuen GNSB-Staatssicherheitsdienstes das Land unter ihre Kontrolle bringt.
Eines Abends stehen zwei GNSB-Beamte vor der Haustür der Dubliner Wissenschaftlerin Eilish Stark. Sie wollen ihren Ehemann Larry sprechen, einen bekannten Funktionär der Lehrer-Gewerkschaft, die gerade eine Großdemonstration vorbereitet. Noch vertrauen die Eheleute auf den Rechtsstaat und die Verfassung des Landes. „Das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts. Warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?“ - „Das geht alles vorbei, Eilish, früher oder später wird die NAP nachgeben müssen, in ganz Europa herrscht Empörung.“
Doch Larry wird verhaftet und bleibt für Eilish unauffindbar. Sie versucht, ihren Kindern Mark (17), Molly (15) und Bailey (12) sowie Nachzügler Ben (1) die „heile Welt“ zu bewahren. Doch die Ereignisse spitzen sich zu. Nicht nur das Wohnhaus der Familie Stark, die inzwischen als Regime-Gegner bekannt ist, wird von Schlägern beschädigt. „Windschutzscheiben mit Rohren und Baseballschlägern [werden] zertrümmert, Schaufenster eingeschlagen und Hausfassaden demoliert. Es gehen Gerüchte, einige der Männer seien Angehörige der Sicherheitskräfte, einige gehörten den Gardaí an.“
Das Regime hat inzwischen Justiz und Wirtschaft unter seine Kontrolle gebracht, in Unternehmen werden Regime-Kritiker gegen Anhänger ausgetauscht. „Jeden Tag schließt wieder ein internationales Unternehmen unter Ausflüchten die Tore.“ Irlands Nachbarländer schweigen. Es formiert sich eine Rebellen-Armee, der sich auch der 17-jährige Mark anschließt. Wie wird es weitergehen? Was kann Eilish tun, um sich und ihre Familie zu retten? Muss sie weiter ausharren, um auf die Rückkehr von Ehemann und Sohn zu warten? Es bleibt eine Hoffnung: „Früher oder später wird der Schmerz zu groß für Furcht, und wenn die Menschen die Furcht verloren haben, wird das Regime weichen müssen.“ Wird es das?
Paul Lynch erzählt das Schicksal einer bürgerlichen Durchschnittsfamilie in einem einst demokratischen Rechtsstaat, die durch politische Umwälzungen unschuldig und unerwartet in Gefahr für Leib und Leben gerät. Er schildert auf beklemmende Weise, wie sich der Totalitarismus im Land festigt. Doch die Dramatik der Handlung entsteht nicht durch die Zuspitzung der Geschehnisse allein, sondern auch durch Lynchs ungewöhnlichen Schreibstil: Wörtliche Rede wird nicht durch Anführungsstriche kenntlich gemacht, sondern Prosa und Dialoge verschmelzen ineinander zu langen Sätzen, die durch das Auslassen von Pausen schon beim Lesen fast den Atem nehmen.
„Das Lied des Propheten“ ist ein Roman, der uns alle angeht – gerade in heutiger Zeit. Was Paul Lynch in seinem Buch beschreibt, ist noch fiktive Dystopie. Doch sie kann schneller als gedacht Wirklichkeit werden. Brauchen wir wirklich erst einen irischen Schriftsteller als Warner vor rechtem Extremismus, da „der Prophet im eigenen Land“ bekanntlich nichts gilt?